Freie Radios ebneten 1998 nicht nur einen neuen akustischen Weg, medial nicht- oder unterrepräsentierte Themen breiteren Öffentlichkeiten näher zu bringen. Sie eröffneten auch erstmals die Möglichkeit, rasch und ohne die von den Erscheinungsrhythmen alternativer Zeitschriften vorgegebenen Verzögerungen in gesellschaftliche und politische Diskurse zu intervenieren, ehe diese durch konventionelle Massenmedien so verfestigt wurden, dass andere Betrachtungswinkel gar nicht mehr ernst genommen wurden.
Ähnlich schnell ließ sich zwar auch schon 1998 über Internet agieren, das war damals aber noch nicht so bedeutend. Und vor allem ließ es kaum eine so tiefgehende Aufbereitung eines Themas zu, wie es mit Reportagen, gebauten Beiträgen und Features im Freien Radio möglich war.
Schnelligkeit war für viele Radiomacher_innen allerdings gar kein relevantes Kriterium. Der Aktualitätsfetischismus konventioneller Massenmedien wurde bisweilen sogar dezidiert abgelehnt. Wichtiger wurde empfunden, andere Perspektiven einzunehmen, und sich darauf zu konzentrieren, jene zu Wort kommen zu lassen, über die sonst nur in dritter Person berichtet wird.
Zahlreiche politisch aktive Gruppen und Personen ergriffen die Möglichkeit, die Inhalte ihrer Arbeit über Radio zu präsentieren. „Radio Stimme“, die Sendung der Initiative Minderheiten, das „Autonome Radio“ (heute: „Anarchistisches Radio“), „Radio Positiv“ der Aidshilfe, der von Gewerkschafter_innen gestaltete „Werkfunk“, „Radio Augustin“ und viele anderen waren von Anfang an mit dabei, als es darum ging, mittels Freiem Radio ihre Anliegen neuen, größeren Rezipient_innengruppen nahezubringen. In der FrauenLesben-Schiene eröffneten Magazine wie „Tamera“ oder „Radio UFF“ einen feministischen Blick auf die Welt.
Über eine geplante tägliche Nachrichtensendung entbrannte vor Sendestart ein heftiger Streit. Letztendlich durfte sie nicht on Air, weil sie nach Darstellung der Herausgeber_innen nicht die Vielfalt an Themen und Standpunkten bzw. Sichtweisen innerhalb des Projekts repräsentierte. Lediglich eine Sendung pro Woche sollte die Nachrichtengruppe gestalten dürfen, was der Großteil der Beteiligten als für aktuelle Berichterstattung nicht ausreichend empfand. Nur wenige von ihnen entschlossen sich, „Trotz Allem“ ein wöchentliches Radiomagazin zu gestalten.
Grenzüberschreitende Aktivitäten
Nachdem 1999 während des Kosovokriegs die Sendeanlagen des unabhängigen Beograder Radiosenders B92 abgeschaltet wurden, beteiligte sich ORANGE 94.0 zusammen mit vielen anderen Medieninitiativen an den Bemühungen, unabhängigen und regimekritischen Stimmen aus der Bundesrepublik Jugoslawien weiter Gehör zu verschaffen, und strahlte täglich von (ehemaligen) B92-Redakteur_innen produzierte Sendungen über die Demokratiebewegung aus.
Als 2011 „Tilos Rádió“ zum ersten Opfer der neuen ungarischen Medienbehörde zu werden drohte, beteiligte sich ORANGE 94.0 zusammen mit Menschenrechtsorganisationen und Journalist_innenverbänden an der Organisierung einer Kundgebung vor der ungarischen Botschaft in Wien, um insbesondere auch auf die Bedrohung der Freien Medien in Ungarn hinzuweisen.
Gegenschwarzblau
Brandaktuell wurde mittels ORANGE 94.0 im Jahr 2000 in die politischen Ereignisse interveniert, als die Bewegung gegen „Schwarzblau“ die Regierungsübernahme von FPÖ und ÖVP erst verhindern und dann so schnell wie möglich beenden wollte. Schon als am 1. Feber 2000 Demonstrant_innen das Dach der ÖVP-Zentrale besetzten, wurde live über Telefon davon berichtet. Und als die mehrere Jahre nicht enden wollende Demonstrationswelle so richtig losbrach, waren immer ORANGE-94.0-Reporter_innen mit dabei – als sich die neue Regierung angesichts ihrer lauten Kritiker_innen nicht über den Ballhausplatz zur Angelobung gehen traute, als erboste Demonstrant_innen das Sozialministerium besetzten, als die Polizei vergeblich versuchte, mit Wasserwerfern dem Aufruhr ein Ende zu setzen, und auch noch als jahrelang jeden Donnerstag durch Wien demonstriert wurde. Und wenn mal keine Reporter_in zugegen war, übernahmen einfach die Hörer_innen die Berichterstattung und riefen im Studio an. Fast alle Radiomacher_innen ließen die aktuellen Informationen über die Gegen-Schwarzblau-Proteste on Air, unabhängig davon, worum es in der eigenen Sendung gerade ging. ORANGE 94.0 wurde zu einer der wichtigsten Informationsdrehscheiben der Bewegung.
Antifaschismus, Antirassismus
Bis heute wird immer wieder versucht, mittels Liveberichten zivilgesellschaftliche Aktivitäten zu unterstützen. So gibt es jedes Jahr Sonderprogramm von den antifaschistischen Protesten gegen den Ball deutschnational/-völkischer Burschenschaften in der Hofburg. Wenn antirassistische Aktivist_innen versuchen, rechtzeitig bekannt gewordene Abschiebungen zu verhindern, wird immer wieder versucht, dies über ORANGE 94.0 publik zu machen. Ebenso wurde laufend auf ORANGE 94.0 berichtet, als Geflüchtete im November 2012 von Traiskirchen nach Wien zogen und im Sigmund-Freud-Park ein Refugee-Protest-Camp errichteten und in der Votivkirche Schutz suchten. Im Gegensatz zu anderen Medien waren dabei auf ORANGE 94.0 vor allem die beteiligten Asylwerber_innen selbst zu hören.
Mehrmals beteiligte sich ORANGE 94.0 auch an den jedes Jahr vom Weltverband Freier Radios AMARC organisierten Kooperationen zum Internationalen Tag gegen Rassismus am 21. März.
Ökobewegung
In Sendereihen wie Radio Natural und Open Up analysieren Aktivist_innen kontinuierlich umweltpolitische Probleme und Aktivitäten. ORANGE 94.0 war aber auch live dabei, als der Augarten vor Verbauung zu schützen versucht wurde, als mit einer Landbesetzung in Jedlersdorf probiert wurde, solidarische Landwirtschaft mitten in der Stadt zu ermöglichen, oder als gegen den Bau der „Lobauautobahn“ ein Protestcamp als Mahnwache am Waldrand errichtet wurde.
FrauenLesben-Programm
Feministische Positionen sollten auf ORANGE 94.0 nie auf die FrauenLesben-Schiene beschränkt bleiben, sondern alle Programmbereiche durchziehen. Es erwies sich aber wiederholt schon als Problem, selbst antisexistische Mindeststandards bei allen Radiomachenden durchzusetzen. Umso wichtiger erschien es, sich immer wieder deutlich gegen den antifeministischen Maistream zu positionieren. So gibt es am 8. März, dem internationalen FrauenLesben-Tag jedes Jahr ausschließlich von Frauen_Lesben gestaltetes feministisches Sonderprogramm auf ORANGE 94.0, das oft in Zusammenarbeit mit anderen Freien Radios zusammengestellt wird.
und vieles anderes
Manche Initiativen planen das Radio gleich in ihre Aktionen mit ein, etwa das Prekärcafé, das 2012 Teilnehmer_innen von „Streifzügen durch Prekarisierung und Organisierung“ mit im Radio ausgestrahlten Geschichten von Betroffenen begleitete.
Manche Aktionsform wurde auch von anderen Radioinitiativen übernommen und weiterzuentwickeln versucht, etwa das vom Hamburger Künstler_innenkollektiv „Ligna“ übernommene „Radioballett“, das, nachdem es auch in Wien veranstaltet wurde, Antimilitarist_innen und Antinationalist_innen zu einer radiobegleiteten Intervention bei der Heeresschau am Nationalfeiertag 2004 anregte.
Wenn das Internet heute vieles dessen, was früher nur im Radio möglich war, auch, schneller oder gar besser zu verwirklichen erlaubt, ändert sich vielleicht die Rolle Freier Radios in sozialen Bewegungen, in medialen Interventionen, beim Erobern öffentlicher Diskursräume. Aber es bleibt unverzichtbarer Teil eines komplexen multimedialen Gegenöffentlichkeitsnetzwerks. Zusammen mit Webinitiativen, Blogger_innen, Twitterant_innen, Videoaktivist_innen, Zeitschriftenmacher_innen, Sprayer_innen und vielen anderen schaffen Radioaktivist_innen jenen wachsenden medialen Raum, aus dem heraus auch morgen noch für eine gerechtere und lebenswertere Welt gekämpft werden kann.
Gerhard Kettler
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